Das und dieser daraus stammende Textabschnitt ist immer noch mehr als gültig: Der postmoderne Mensch ist durch den Zwang zu wiederholtem sozialen Customizing gezwungen, mit seinem existentiellen Bedürfnis nach einem authentischen Selbst, einem konsistenten Charakter auf neue veränderte Weise umzugehen. Zwar befreien die sich ständig erweiternden (tele-) kommunikativen Möglichkeiten den Einzelnen grundsätzlich „(…) from conformity to a single image, to seeking continuity and consistency among roles played through life (…)“ (Quelle im o.a. PDF), indem sie grundsätzlich erlauben, sich als „(…) multiple and often highly contradictory value systems, lifestyles, etc. (…) without feeling inconsistent and improper“ (Quelle im o.a. PDF) zugehörig zu zeigen. Doch müssen die damit verbundenen, verschiedenen (freien, spontanen und/ oder geplanten) Ich-Setzungen, Selbstverständnisse, individuellen Wertesysteme etc. weiterhin in eine für das Individuum stimmige Ordnung gestellt werden, was in der Folge zu einer „never endig identity quest, a quest for the meaning of their life“ (Quelle im o.a. PDF) führt. „There is no expectation of continuous life-long development, no story of personal growth over time. Instead the post-modern self considers itself as a discontinuous entity (or odentities) constantly made and re-made in neutral time.” (Quelle im o.a. PDF)
Theoretisch.
Was dabei zunehmend beobachten ist ist eine grundsätzliche Unfähigkeit, gerade dieses immerwährende Selbst-Gestalten und stetes Neu-Gestalten des postmodernen Selbsts bewusst und geplant zu vollziehen; erst recht nicht in konsistenter und sich iterativ und autark weiterentwickelnder Weise. Ganz im Gegenteil: die Gefühle bestimmen zunehmend die Moral; Gefühle, die nicht dem Intellekt, sondern der Präsidisposi- und der Sozialisation entspringen. Denn „alle Menschen haben eine moralische Identität: Unsere Werte und Normen wechseln wir nicht einfach so wie unsere Kleidung oder unseren Musikgeschmack, denn sie bestimmen uns in dem, wer wir sind. Und wir wollen sie um jeden Preis schützen. (…) Wir leiten aber unsere Werte jetzt nicht aus den Allgemeinen Menschenrechten ab und folgen auch nicht dem Kategorischen Imperativ, wie Kant empfohlen hat, sondern sind dabei stark von emotionalen Neigungen geprägt. Wer sich zum Beispiel schnell ängstigt, also in seiner Umgebung bedroht fühlt, wählt eher traditionalistische Parteien; wer starkes Mitgefühl mit den Schwachen hat eher progressive.“ (Phillip Hübl)
Und „sobald diese emotionsbasierten Werte verletzt werden, reagieren wir mit Empörung, also moralischem Zorn,“ (ebenda) mit Abwehr, Abwertung, Abgrenzung. Und der daraus resultierende moralische Zorn entläd sich in einer Welt, in der Kommunikation das Selbst bestimmt und erhält (in diesem Fall als Quelle für Persönlichkeits- und Prosumtionsnutzen sein kann) in moralische Selbstdarstellung, die gesellschaftliche Polariserung treibt: „Wir wollen anderen unsere moralische Identität mitteilen. (…) Um auf Nummer sicher zu gehen, sendet man daher besonders deutliche Signale. Und da kommt der zweite Mechanismus ins Spiel. Weil es eitel klingt, von sich selbst zu sagen „schaut, ich bin so moralisch“, senden wir indirekte Signale. Und das geht am besten über Empörung gegenüber der imaginierten Gegenseite.“ (auch da).
Angesichts also einer Situation in der gerade die Auflösung von allgemeinen Wahrheiten, Institutionen, Regeln und ihre Ersetzung durch indivduelle Wahrheiten, Institutionen, Regeln (Hallo Postmoderne) wiederum zur Konstruktion allgemeiner Wahrheiten, Institutionen, Regeln und zu Kriegen zwischen emotionsgetriebenen Moralitäten (Tschüss Postmoderne, hallo moralische Rennaissance?) führt – was ist da die Empfehlung für Marketing als Führungsphilosophie? Verliert da nicht die aus der Markenpersönlichkeit abgeleitete Werteorientierung der letzten Jahre ihre Relevanz? Sondern wird zum Zwang zu willkürlicher moralischer Positionierung aus ökonomischem Kalkül?
Anders kann ich mir nicht erklären, warum z.B. das Edeka-Herz plötzlich blau-gelb schlägt, die AfD am 10. Tag des Ukraine-Krieges bei Aufhebung der Maskepflicht Demonstrationen gegen die Coronapolitik organisiert oder Fridays for Future (gestern erst) den Begriff des fossilen Krieges erfand. Hoffentlich habe ich unrecht. Und nicht nur, weil diese Anbiederei an moralisch Zornige angesichts der aktuell schrecklichen, inhumanen und inakzeptablem Weltlage einfach nur jämmerlich ist, sondern ich ein solches Marketing verabscheuen würde…